Der Schimmelreiter von Storm und seine Landschaft

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In der Novelle Der Schimmelreiter von Theodor Storm geht es um Hauke Haien, dessen Lebensziel darin besteht, Deichgraf zu werden und einen neuen Deich zu bauen, der die Dorfbewohner besser vor Sturmfluten schützen soll. Die Geschichte spielt in einem nordfriesischen Dorf an der Nordseeküste. Storm hatte bei seiner Novelle Sterdebüll vor Augen, welches nur sieben Kilometer nördlich seiner Heimatstadt Husum liegt. Hier gab es im 17. Jahrhundert im Zuge der Eindeichung tatsächlich einen neuen Koog. Der Hauke-Haien-Koog ist allerdings frei erfunden. Diese eigenartige Landschaft an der Nordsee prägte den jungen Hans Theodor Woldsen Storm, der diesen Flecken Erde über alles liebte und immer unglücklich war, wenn er seine Heimat verlassen musste. Neben der weitem Landschaft und Husum inspirierten Storm aber auch die Sagen und Märchen dieser Gegend, die seine Großmutter und ganz besonders die „Märchenfrau“ Lena Wies so spannend erzählen konnten. Aus dieser Mischung entstand sein Meisterwerk – der Schimmelreiter.

Nordfriesisches Wattenmeer

Die Landschaft des Schimmelreiters

Die Naturdarstellung spielt im Schimmelreiter eine große Rolle. Theodor Storm bettete die Novelle in eine wirklichkeitsnah geschilderte Landschaft. Es handelt sich dabei um Nordfriesland mit seinen Deichen und Dörfern, die mit der ständigen Bedrohung durch das Meer leben müssen. Das Dorf Sterdebüll, wo der Schimmelreiter spielt, gehört zu Bordelum. Das wiederum ist eine Gemeinde am Stollberg im Kreis Nordfriesland in Schleswig-Holstein. Der im Gemeindegebiet liegende Marschstreifen wird durch vier Köge gebildet – Sterdebüller Alter Koog (1466), Sterdebüller Neuer Koog (1520) Bordelumer Koog (1520) und Frau-Metten-Koog (1721). Nordöstlich schließt sich mit dem Stollberg ein Teilbereich der Hohen Geest an. Der Stollberg selbst ist eine Endmoräne aus der Saale-Eiszeit. Der 43,4 Meter hohe Stollberg, immerhin die vierthöchste Erhebung in Nordfriesland, wurde bereits 2002 als Naturerlebnisraum anerkannt. Mystik hat der „Berg“ ebenfalls zu bieten – denn Urnengräber deuten auf eine vorgeschichtliche Besiedlung hin und die Stollbergquelle steht als „heilige Quelle“ unter Denkmalschutz.

Friesland / Deutschland

Das Wattenmeer

Das Wattenmeer an der Nordsee ist nicht das einzige aber das bedeutendste Wattenmeer weltweit. Mit etwa 8000 Quadratkilometer Wasseroberfläche ist es das größte Ökosystem seiner Art. Es erstreckt sich über eine Länge von ungefähr 450 Kilometern von der niederländischen Stadt Den Helder im Westen über das deutsche Küstengebiet bis zum nördlich gelegenen Esbjerg in Dänemark. Die Gezeiten sind hier ein faszinierendes Schauspiel, denn wenn sich das Wasser bei Ebbe aus dem Watt zurückzieht, fließt es nur scheinbar ebenmäßig von den weiten Ebenen des Wattbodens ab. Wer genau schaut, sieht zahlreiche kleine Rinnsale und Verästelungen die das zurückweichende Wasser kanalisieren. Diese Rinnsale münden allerdings oft in mächtige und reißende, nicht selten metertiefen Strömen: den Prielen. Die können bei einer Wattwanderung dann sehr gefährlich werden.

Hauke Haien Koog Karte

Kein Deich – kein Land – kein Leben

Diesen Satz hat der Deichrichter Albert Brahms vor 250 Jahren geprägt. Der Jeverländische Deich- und Sielrichter beschrieb 1754 die damalige Methode des Deichbaues. Wer den Schimmelreiter liest, kann übrigens davon ausgehen, dass der Deichbau zu Hauke Haiens Zeit in etwa so stattgefunden hat. Damals konnte man einen Deich nur im Sommerhalbjahr bauen. Denn nur dann war keine Sturmflut zu erwarten. Für den Bau warb man die sogenannten „Koyer“ an. Sie kampierten dann nahe der Deichbaustelle in primitiven Hütten mit Dächern aus Stroh und Reet und schliefen auf einer Lage Stroh. An der Baustelle stellte man Marketender- und Sudelerzelte auf, hier konnten die Arbeiter Brot, Speck, Bier und Branntwein kaufen.

Wer nicht deichen will, muss weichen

Verfasser unbekannt

Zwölf bis vierzehn Stunden am Tag mussten die Koyer bei Wind und Wetter mindestens ein Vierteljahr lang täglich den schweren Kleiboden aus den Pütten graben. Dann verlud man das Material auf Karren und Wüppen und transportierte es mühsam auf schmalen, glitschigen Holzbohlen zur Deichbaustelle. Die Koyer taten sich in der Regel zu 9-12 Mann zu einem Plog (Püttmannschaft) unter Leitung eines Püttmeisters zusammen und bewarben sich bei der Vergabe um sogenannte Deichpfänder. Das ist eine Deichbaustrecke von etwa 30 Metern. Es wurde an sechseinhalb Tagen in der Woche gearbeitet. Ein Plog schaffte am Tag fünfundvierzig Kubikmeter Boden aus der Pütt in den Deich und das über Wochen. Für einen drei Kilometer langen Deich haben damals 1.000 Mann bei einer Arbeitszeit von 80 Stunden in der Woche 400.000 Kubikmeter Kleiboden gewonnen, transportiert und eingebaut. Das sind ungefähr 8.000.000 Karren voll.

Schimmel(reiter)

Ratio versus Aberglauben im Schimmelreiter

Im Mittelpunkt der Novelle steht das Meer als Naturgewalt und der Deich, als Antwort des Menschen darauf, quasi die Gegenstrategie. Schon bevor die tragische Geschichte des Hauke Haien ihren Lauf nimmt, sind diese beiden Elemente präsent. Hauke Haien selbst ist ein bisschen wie Galileo Galilei, der seine wissenschaftlich belegten Thesen revidieren musste oder aber Sokrates, der zum Gifttod verurteilt wurde. Er gehört damit zu den gescheiterten Geistesgrößen, die aufgrund ihrer revolutionären Erkenntnisse von der breiten – in dem Fall bornierten – Masse ignoriert, denunziert, ja sogar eliminiert wurden. Hauke Haien wird zum Schimmelreiter als er „den Fortschritt“ bringen will. Die Menschen dämonisieren ihn, weil er sie zwingt ihr Verhalten und damit alte Strukturen zu verändern. Er will einen neuen Damm, einen den die Menschen nicht verstehen. Der Schimmelreiter steht auch für das Fortschrittsdenken der Gründerzeit.

Verhaltensänderungen und somit auch strukturelle Veränderungen manifestieren sich besonders durch neue Technologien, die zunächst als traumatisch eingreifend in den gesicherten bereits definierten Sozial-Raum erlebt werden und somit aufgrund der möglicherweise in Frage gestellten allgemeingültigen Realität von der „Umgebungsgesellschaft“ abgelehnt werden.

Harro Segeberg in „Kritischer Regionalismus“

Theodor Storm und seine Zeit

Theodor Storm lebte in einer Zeit technischer Neuerungen, dadurch wurden viele Normen und Gewohntes in Frage gestellt. Denn die Menschen wurden damals mit ständig neuen Erfindungen und Entdeckungen konfrontiert, die das gesellschaftliche und wirtschaftliche Gefüge erschütterten. Die daraus resultierende Instabilität förderte wiederum Angst und diese beflügelte schließlich eine Abneigung gegenüber der Industrialisierung. Die zwei Pole des 18.Jhs. spiegeln sich im Schimmelreiter in der Verbindung der aufgeklärten Weltsicht des Rationalisten Hauke Haien und dem suggestiven mystischen Aberglauben der Dorfbewohner. Das Jahrhundert der Aufklärung war eine Konfrontation von Naturwissenschaften und Technik, also Vernunft, versus Irrationalismus inklusive spekulativer metaphysischer Weltanschauung. Die Figur Hauke Haien repräsentiert den neuen, beim „Volk“ eher unbeliebten, Bildungstypen des sich anbahnenden industriellen Zeitalters, den Ingenieur und Techniker.

an der Nordsee

Am Wattenmeer – eine Küste in Bewegung

Die Küste hat sich mehrmals und das recht flott, verändert. Als vor etwa 11.000 Jahren die letzte Eiszeit endete, befand sich der deutsche Küstenstreifen der Nordsee etwa 400 Kilometer weiter nördlich. Der Grund dafür war ein Klimawandel. Es wurde wärmer und das bewirkte ein großflächiges Abschmelzen der skandinavischen Eisdecke. Diese auf solche Weise freigesetzten Wassermassen überfluteten das Festland und lagerten vor 6000 Jahren gigantische Mengen Sand und Sedimente an. Damit ist das Wattenmeer, wenigstens aus geologischer Perspektive, relativ jung. Zum Beispiel: Vor 3000 Jahren existierte die zerrissene Landschaft der nordfriesischen Inseln noch nicht. Von Sylt bis St. Peter Ording war die heute zerklüftete Insellandschaft ein zusammenhängender Sanddünenwall, der bis zur Höhe der Eidermündung reichte und das Festland von der offenen Nordsee abgrenzte.

Das Meer ergoss sich wie kochendes Wasser

NDR „Erste Marcellusflut“ (Link)

Vor etwa Tausend Jahren stieg der Meeresspiegel erneut an. Das Meer holte sich das Land wieder zurück. Die Erosionskraft der Gezeiten führte nach und nach zur Abtragung der vormals angeschwemmten Uferlandschaft. Das ging schnell – in wenigen Jahrhunderten verlagerten Wind und Wellen die Wattküste erneut weit ins Landesinnere. Weit über 10.000 Menschen starben bei den großen Sturmfluten, der Marcellusflut von 1219 und den „Manndränken“ von 1362 und 1634. Fast über Nacht vollzog das Meer damals die bis heute noch bestehenden Uferveränderungen, zerschlug unwiederbringlich die ehemalige Küstenlinie und holte sich große Teile des Festlandes zurück. Seither baut der Mensch Dämme und das Meer zerschlägt sie wieder.

an der Nordsee

Der Mensch kann der Natur nur bedingt trotzen

Wenn der Mensch der Natur Widerstand leistet, dann wird es teuer. Das zeigt sich am Beispiel von Sylt. Denn jedes Jahr gestaltet der „blanke Hans“ – so wird die Nordsee bei Sturm genannt, die Küstenlinie der westlichsten der nordfriesischen Inseln um. Sylt hat ein Problem – im Gegensatz zu allen anderen nordfriesischen Inseln fehlt ihr eine natürliche Barriere. Das Wasser kann hier angreifen, denn der Meeresboden vor Sylt ist tief. Die Wellen der Nordsee krachen ungebremst an die Küste der Insel. Bei den Nachbarinseln ist das anders, denn sie liegen in einem Flachwasserbereich der von Sandbänken durchzogen ist. Die Wellen laufen sich daher tot.  Seit 1972 schützt man die Küste von Sylt mit Sandaufspülungen. Baggerschiffe entnehmen auf offenem Meer vor der Westküste Sand und pumpen ein Wasser-Sand-Gemisch an den Strand. Dort wird das Gemisch von Bulldozern verteilt. Das ist teuer aber immer noch billiger als die Insel zu verlieren.

Sylt liegt sieben Kilometer zu weit westlich, aber die Nordsee arbeitet dran

lokales Sprichwort

Das ist nicht nur bei Sylt so, denn das Wattenmeer bleibt in Bewegung. Ganze Inseln gehen unter, neue Sandbänke tauchen auf und manche Inseln wandern mit der Strömung von West nach Ost. So liegt zum Beispiel die Fläche der ersten auf Wangerooge gebauten Kirche mittlerweile metertief im Wasser. Spiekeroog hat dagegen in den vergangenen hundert Jahren vier Kilometer hinzugewonnen. Das Meer lagert zweimal täglich mit der Flut tonnenweise Sand und Schlick ab. Durch diese, sich ewig wiederholende, Anlandung der Sedimente durch die Flut, gewinnt die Uferlandschaft an Boden, an manchen Stellen sogar einige Zentimeter jährlich. So entstehen die Marschen. Der Mensch will diesen Vorgang beschleunigen also legen die Deich- und Küstenbewohner Lahnungsfelder an.

Lahnungsfelder werden gewonnen, indem parallele Holzpfahlreihen in den Sedimentboden getrieben werden. Zwischen die Pflöcke werden Äste und Zweige geflochten. Das Wattgelände wird auf diese Weise in Lahnungskarrees unterteilt, in denen das anschwemmende Wasser an Fahrt verliert und seine Schwebeteilchen sedimentieren. Das Wasser läuft aus, doch die Lahnungen behalten die Sediment-Teilchen ein. So nimmt der gewonnene Boden allmählich an Höhe zu.

Sylt RalfR Wikipedia

Der Kampf um das Land ist eine „nerver ending story“

Angespültes Land ist grundsätzlich salzig und wenn es den Queller nicht gäbe, dann wäre es wohl schwierig mit der Landgewinnung. Das Fuchsschwanzgewächs verträgt Salz und hält den Boden zusammen. Die nächsten Siedler sind kurze, harte Gräser. Das wiederum freut die Schafe. Wenn der Marschboden fest ist beginnt der Kampf gegen Gezeiten, Wind und Sturmfluten. Hier kommt dann der Deich in Spiel. Der Kern des Deiches besteht aus Sand, über den eine Schicht Marschboden aufgetragen wird, der anschließend von einem dichten Grasrücken zusammengehalten wird. Deiche sind heute ausgeklügelte Bauwerke von beachtlicher Höhe. Entscheidend für die Wirksamkeit des Uferschutzes ist das Profil der Deiche. Ziel ist es, die Deiche zur Seeseite hin lang und flach auslaufen zu lassen. Moderne Deichbauten lassen das wütende Meer also buchstäblich auflaufen. Das hat der Schimmelreiter Hauke Haien erkannt. Ein Damm darf nie steil sein denn nur an einem langen flachen Deich laufen sich die Wellen tot.

1 Kommentar zu „Der Schimmelreiter von Storm und seine Landschaft“

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